DIE MANISCH-KREATIVEN

manisch-magisch-überspannt…

Foto: Anna C.-Photography Bearb./Styling/Make up: von mir
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Die Engländerin Mary Lamb, die ihre kranken Eltern zeitweilig durch Näharbeiten allein ernährte, brachte 1796 in
einem jähen Anfall ihre Mutter mit dem Küchenmesser um. Die unbescholtene 31-Jährige kam sofort in die Psychiatrie.
Zufällig erlaubten es die Gesetze in jenem Jahr, Internierte nach Abklingen ihrer Psychose mit einer „lebenslangen
persönlichen Bürgschaft“ nach Haus zu entlassen. Marys jüngerer Bruder Charles übernahm diese Bürgschaft. 30 Jahre
lebten die beiden als geachtete, produktive Literaten in London zusammen:
Ihre Nacherzählungen der Shakespeare-Stücke werden noch heute gern gelesen. Immer wenn Mary einen neuen Anfall
von Manie nahen spürte – die sehr zurückgenommene Frau wurde dann redselig, witzig, brillant -,
ließ sie sich von ihrem Bruder in die Psychiatrie bringen, ebenso zu Beginn einer Depression. Auf Reisen
führte sie vorsorglich ihre Zwangsjacke mit sich.

 

Beispiele Kreativer:

* Lucia Joyce, begabte Ausdruckstänzerin, wegen wiederkehrender Tobsuchtsanfälle über 40 Jahre in der Anstalt;

* Martin Kippenberger, der hyperaktive, einfallsreiche Maler und Objektkünstler, der sich zu Tode trank,
bekannt durch den „Gekreuzigten Frosch“ oder die „Betrunkene Laterne“;

* Martha (Mete) Fontane, jene lustig-manische „Corinna“ in Theodor Fontanes Roman “
Frau Jenny Treibel“, die sich nach langen Jahren der Depression umbrachte;

* das Schriftsteller-Ehepaar Elias und Veza Canetti, dessen Briefwechsel mit Elias‘ Bruder Georges
zum ersten Mal zeigte, in welchem Stimmungstollhaus die beiden saßen: Veza hielt sich selbst für eine “
Melancholikerin, aber mit sehr manischen Zeiten“, fürchtete Elias‘ wiederkehrende manische Anfälle,
seine Lügengeschichten und Panikattacken; Elias wiederum war von Vezas Stimmungstiefs und Selbstmorddrohungen
stark beunruhigt.

–>In diesem Herbst kommen neue Biografien hinzu,
mehrere über Heinrich von Kleist und eine über den „Moby-Dick“-Autor Herman Melville.

Über Melville schreibt sein Biograf Andrew Delbanco:
„Seinen Glücksmomenten folgten jedoch häufig Depressionen …
Das Phänomen der manischen Depression war bei neoklassischen und romantischen Schriftstellern weitverbreitet …
Genies scheinen solchen Stimmungsumschwüngen in besonderem Maß unterworfen zu sein …“
Dies gilt auch für Kleist.
Was Depressionen sind, glauben wir zu wissen. Was aber ist Manie?

War Lucia Joyce manisch, als sie 24-jährig einen Stuhl nach ihrer Mutter schleuderte?
War sie manisch, als sie vor Liebesenttäuschung drei Tage lang reglos im Stupor auf der Couch lag?
Als sie ihrem Vater mehrfach das Telefonkabel durchschnitt, weil sie „früher berühmt werden“ wollte als er?
Als sie mit Schellackplatten, die ihr nicht gehörten, Diskuswerfen am Strand spielte und anschließend
auf einem Teppich, der ihr auch nicht gehörte, ein romantisches Torffeuer entzündete?

Oder ist Manie blanker Furor, jene kreative Wut, mit der Herman Melville seinen hasserfüllten Kapitän Ahab
entwickelte, totalitär, vernichtungssüchtig – das große Thema des 20. und des 21. Jahrhunderts,
wie Biograf Delbanco schreibt? Ein Furor, der dazu führte, dass nicht nur Moby Dick,
sondern auch Familie Melville des Lebens nicht mehr froh wurde:
Gattin Lizzie wollte ihren jähzornigen Ehemann mehr als einmal verlassen,
Sohn Malcolm brachte sich mit 18 Jahren um.

Ist Manie vielleicht –
wie bei Elias Canetti – der Drang, einen intensiven Bann über Menschen zu werfen,
tyrannisch, dogmatisch, erotisch, selbstbesessen? Oder ist es die Unart, wie bei Martin Kippenberger,
einem Gegenüber Beleidigungen an den Kopf zu werfen, um dann in nächtlichen Telefonaten der großen Einsamkeit
entfliehen zu wollen? Ist Manie der exorbitante Appetit, der Sylvia Plath und Melville nachgesagt wurde,
oder eher der große Durst?
Nehmen Maniker nur deshalb Stimulanzien, um ihre körpereigenen Highs zu verlängern,
beziehungsweise wieder zu erzeugen, wenn sie fehlen?

Was passiert, wenn zwei Maniker aufeinandertreffen?
Finden sie einander interessant? Oder abstoßend? Weinen sie vor Glück, ihresgleichen gefunden zu haben,
wie Melville bei Nathaniel Hawthorne, seinem vermeintlich Seelenverwandten?
Wie Kleist bei Henriette Vogel, über die er schreibt: „Eine Freundin … deren Seele wie ein junger Adler fliegt,
wie ich noch in meinem Leben nichts Ähnliches gefunden habe;
die meine Traurigkeit als eine höhere, festgewurzelte und unheilbare begreift“?

All dies sind Ausdrucksformen einer Erkrankung, die früher den diskriminierenden Namen „manischdepressives Irresein“ trug.
Heute heißt sie, medizinisch neutral, „Bipolare Störung“. Im angelsächsischen Sprachraum ist sie so bekannt wie die Geschichte der Mary Lamb,
wie das Leiden des romantischen Dichters Lord Byron, wie die Krankheit, die Ernest Hemingway in den Selbstmord trieb,
und Virginia Woolf, und Sylvia Plath. Hellsichtig hatte Plath 1958 über sich notiert, ihr Leben werde
„auf magische Weise von zwei elektrischen Strömen geführt, freudig-positiv der eine, verzweifelnd negativ der andere –
und derjenige, der gerade die Oberhand hat, dominiert mein Leben völlig“.

Es geht um ein Phänomen, das unabhängig von Epoche und Geschlecht Menschen befällt,
erbliche Disposition meist vorausgesetzt, ihnen auf der einen Seite begeisternde Manien beschert,
auf der anderen tiefe Depressionen. Oder die gefürchteten „mixed states“, die Gemischten Zustände, bei denen sich eine
„gereizte Manie“ oder eine „agitierte Depression“ zu Zornausbrüchen und zu Gewalttätigkeit gegen sich selbst und andere auswachsen kann.

 

Die Störung tritt in verschiedenen Schweregraden auf, als mehr oder weniger erträgliches Temperament
bis hin zur wiederkehrenden Psychose mit Sinnestäuschungen aller Art. Sie hat offenbar ein transpersonales Element
(Übertreibung, Zorn, Enthemmung), verstärkt aber auch die jeweils vorhandenen individuellen Züge,
bringt wie ein riesiger Dimmschalter all das zum Glühen und Explodieren, was jeweils schon ausgeprägt ist,
oder reduziert es in der Depression auf Beinahe-Null.
– Es ist die Krankheit der Kreativen.
Bipolare können die meiste Zeit ihres Lebens vollkommen normal sein. Ihre Luzidität bleibt sogar während ihrer Schübe erhalten,
was die Diagnose so schwierig macht. Aber auf dem Höhepunkt dieser Schübe, in denen sie wie ferngesteuert handeln,
sind sie verwirrt, gemütskrank, verrückt.

Ob die Bipolare Störung kreativ macht oder ein vorhandenes großes Talent zum Blühen bringt…
manchmal überaus rational, dann wieder schwärmerisch, mal heftig aufbrausend,
dann wieder sanft und gut.
Sie kann jedenfalls erheblich mehr sein als nur eine leichte Macke.
(Von Mulot, Sibylle)